Hier ist der zweite Teil des Beitrages. Ich werde mich im folgenden Text nun dem Thema Japan und den dortigen Befindlichkeiten zuwenden. Das ist nicht so einfach und nur meine bescheidene Laien-Meinung. Gelernte Nippologen dürfen mich gerne korrigieren.
Die Frage die sich natürlich stellt: warum gerade Japan als Nährboden für eine so umfangreiche (und oft genug seltsame) Animationskultur? Wenn man sich die japanische Gesellschaftsstruktur ansieht, dann findet man dort wohl auch einige eher unschöne und geradezu repressive Aspekte: die starke Hierarchie, bei der Erfolg und gesellschaftliche Position ungemein wichtig sind, die generelle Tendenz zum "Nicht-auffallen-dürfen" und Konformität (es gibt dazu das nette Sprichwort "Der Nagel, der aus dem Brett heraussteht, muß eingeschlagen werden") und die starke Betonung einer Notwendigkeit der gesellschaftlichen Harmonie über den Wünschen des Individuums.
Es gibt Unterschiede und Rollenverteilungen in etlichen Bereichen, zwischen jung und alt, zwischen Mann und Frau, zwischen Erfolg und Mißerfolg usw. All das spiegelt sich neben anderen Dingen auch in der Sprache und den Höflichkeitskonventionen wider, die stets auch vom Stand des Betreffenden in der Gesellschaft abhängen. Es gibt darüber hinaus sogar in der Sprache und Wortwahl (kaum übersetzbare) Unterschiede zwischen Mann und Frau. Benutzt eine Frau Begriffe, die eigentlich für den Mann reserviert sind, betont sie damit gleich ihre Seltsamkeit (es kommt im Anime daher gerne auch mal vor, geht in Übersetzungen aber wohl verloren). In der Realität wäre das ein grober sozial Fauxpas, daher bleibt es den Zeichentrickfiguren überlassen, die Grenzen zu übertreten.
Die japanische Popkultur ist geprägt von grellen Tönen, Oberflächlichkeit, und vor allem auch Schnelllebigkeit mit Stars, Sternchen und Kurzzeit-Idolen, sowie einer alles durchdringenden Digitalisierung und Allzeitverfügbarkeit. Und dennoch taucht gerade in dieser Umgebung das seltsame Phänomen auf, daß sich der Eskapismus aus der überstrengen Gesellschaftsstruktur ausgerechnet in Form von Comics und Zeichentrickserien zeigt, in denen die Charaktere so ganz anders sind, als das Alltagsleben. Und in den allerbesten Produkten dieser Weltflucht können sich dann Ideen manifestieren, die Themen wie Humanismus, Philosophie, life, the universe and everything und das Leben innerer Welten zu einer Brillanz und Vielfältigkeit kombinieren, die es so sonst nirgendwo auf der Welt gibt. In jenen Fällen wird dann auch die oft schwer nachvollziehbare japanische Mentalität zu einem Sprachrohr für einen universellen Humanismus bzw. zu einer Botschaft über das Gute im Menschen an sich.
Wie gesagt, wir sprechen hier von seltenen Perlen, von vielleicht jeweils einer von 100 Serien, wenn nicht sogar von einer von 1.000. Hier fließen dann natürlich auch andere Aspekte, "Konflikte" und Kontraste innerhalb der Gesellschaft mit ein: Industrie und Fortschritt vs Naturglauben und alten Shintoismus, erfolgsorientiertes Leben vs Bescheidenheit, der alte Weg des Lebens und der "splendid isolation" der Insel vs westliche Assimilation, Hinterfragung der Gesellschaft vs Nicht-auffallen-wollen, sicherlich auch neue Frauenrollen vs althergebrachtes Patriarchat. Auch klassische Traumata wie Naturkatastrophen, Zerstörung und (als problematischer Aspekt) das sogenannte unehrenhafte Verlieren des 2. Weltkriegs haben ihren Anteil. Wenn man aber all das und mehr richtig zusammenbringt, dann kann der Widerspruch und Kontrast zwischen all diesen Themen zu etwas führen, daß weit mehr ist, als die Summe seiner Teile.
Ein für mich interessanter Aspekt ist übrigens, daß sich der Eskapismus in Serien durchaus auch auf Zeitgeist und Fortschritt beziehen kann. Zugegeben, es gibt sehr viele Serien mit Glorifizierung von Technologie und Fortschritt bzw. mit "digitalen Utopien", die mir weit mehr als düstere Dystopien erscheinen. Auf der anderen Seite gibt es aber Serien, in denen Fortschritt sehr weit im Hintergrund bleibt. Da kann es dann durchaus vorkommen, daß jugendliche Charaktere Tonbandgeräte, Super-8-Kameras oder Polaroidfotos verwenden. Könnte man sich so etwas in einer deutschen Trickserie vorstellen, die doch immer die "Lebenswelten" der jungen Zuschauer erfassen soll? Dazu fallen mir als deutsches Bespiel stets die neuen Mainzelmännchen (pardon, ich meine die 6hipdudes@mainz) ein, die nach der Modernisierung nun wohl in jedem zweiten Clip mit Smartphones, Notebooks und Flatscreens herumhantieren. Soll ja niemand denken, das 2DF wäre ein altmodischer Sender ;-).
Nun könnte man an dieser Stelle natürlich die etwas schräge Frage stellen: woher kommt der immense Unterschied zwischen Deutschland und Japan? Beide Länder teilen zumindest im 20. Jahrhundert ähnliche Vergangenheiten: sie haben sich vor und im 2. Weltkrieg auffallend schlecht benommen, wurden besiegt und besetzt, amerikanische Werte und Kultur wurden assimiliert und transformiert. Arbeitsethik, fragwürdige Ehrbegriffe und hierarchisches Bürgertum sind zumindest auch in Ansätzen vergleichbar vorhanden. Und trotzdem gibt es den aktiven Eskapismus, der die immense Kreativität in Japan befeuert, in Deutschland kaum. Während sich in Japan die Formen und Bildsprachen einer Animationskultur entwickelt haben, fiel der Eskapismus in Deutschland ziemlich flach, und die "Kreativität" floß in betuliche Familienserien und Betonungen der bürgerlichen Ordnung (sowie in ebensolche Comics, die sich stark an klassische Tierfabeln anlehnten).
Zurück nach Japan. Gerade der Aspekt der "splendid isolation" ist eventuell ungemein wichtig für das Erfolgsgeheimnis. Die Serien und Filme werden prinzipiell immer zuerst für den japanischen Markt und die dortigen Gegebenheiten und Geisteswelten geschaffen. Man kann immer sofort am Verhalten, am Stil, an den Namen, an der Szenerie, an der Religion, am Essen und Trinken, ja selbst an den Geräuschen von Stadt und Natur erkennen, daß man sich in Japan befindet (und daß die "kleine Insel" für die Charaktere oft das Zentrum des Universums darstellt). Handlungen, die z.B. in Welten von Göttern und Geistern, von kami, yokai und ayakashi, und im religiösen Synkrethismus zwischen Shinto, Buddhismus und Schauwerten des Christentums spielen, sind stark auf ihre kulturellen Wurzeln festgelegt. Das erscheint mir immer als deutlicher Kontrast zu der Globalisierung und Amerikanisierung westlicher Formate. In japanischen Formaten kommt gerade Amerika und das amerikanische Militär oft auffallend schlecht weg. Woran das nur liegen mag? ;-).
Wenn man eine Folge wie "Lisa´s Substitute" als beste Simpsons-Folge aller Zeiten betrachtet, dann kann man vielleicht nur entweder am westlichen Trickprogramm der Gegenwart verzweifeln, oder letztlich (trotz aller begründeten und unbegründeten Vorurteile) doch bei den Anime landen. Dort ist Anteilnahme und Sympathie/Empathie für die Charaktere ein fester Bestandteil und kulturell akzeptiert. Erstaunlicherweise waren auch gerade die "gelben Chaoten" bzw. Simpsons eine Serie, die am Anfang als eines der wenigen westlichen Produkte diesen respect-the-inner-life-Aspekt aufgegriffen hat - man denke an die doch sehr andere Folge "Moaning Lisa". Wie schon gesagt, ist das aber inzwischen ein archaisches Bruchstück, daß deutsche Zuschauer irritiert. Bei den japanischen Serien hat diese Eigenschaft überlebt. Der Preis, den man für diese ernsthafte Behandlung von Charakteren im Anime zahlen muß, ist natürlich auch, daß es keine Garantie gibt, daß alles gut wird. Man darf eine Bindung zu einem Charakter entwickeln, aber der Charakter kann sterben. Und auch das gehört dazu.
Wenn man über Licht spricht, darf man natürlich auch die Schattenseiten nicht vergessen, die vermutlich auch deswegen so ausgeprägt sein können, weil sie eben nicht für gaijin (also Ausländer) entwickelt sind, sondern für einen kulturellen Kontext vor Ort. Was keine Entschuldigung ist. Über Themen wie Sexismus, Objektifizierung, pädophile Konzepte etc. muß man wenig sagen, sie kommen sehr häufig vor, und viele westliche Fans sehen den größten Anreiz zum Schauen und Sammeln von Serien wohl gerade auch in kitschiger Erotik, Stereotypen und Klischees. Man kann um diese Themen einen mehr oder weniger großen Bogen machen, natürlich gibt es in der Masse auch dahingehend "unschuldige" Serien - die Anführungszeichen deshalb, weil sie es so ganz oftmals nie lassen können. Und wenn es gar keine Bezüge in dieser Richtung gibt, dann sind viele Fans scheinbar der Ansicht, sie müssten welche entdecken oder erfinden. Naja.
Andere Schattenseiten sind oft die unterschwelligen Tendenzen zu Konformität und Leistungsdenken, die auch der Eskapismus nicht ganz entfernen kann. All die Serien, in denen irgendwer (oder irgendwas) trainieren, kämpfen, siegen und sich weiterentwickeln muß, fallen in dieses Schema. Erstaunlicherweise verkauft sich dieser Kram auffallend gut in den Westen, während Serien mit stillen und "schwachen" Charakteren (wie etwa Freund Natsume) hier offiziell weitgehend unbekannt bleiben. Das Thema Einordnung in Gruppen und die Leistungsgesellschaft in der Schule ist auch häufig subtil präsent. So weist etwa ein jugendlicher Anime-Charakter, der nicht zur Schule geht oder keine Leistung bringt, auf irgendein großes Problem hin, das mit Hilfe von anderen Menschen überwunden werden muß. Das ist ein Standardmuster.
Auch das Verhältnis zur eigenen Geschichte und zum japanischen Imperialismus und Militarismus ist eine Quelle problematischer Aspekte. Die Mentalität ist hier eine deutlich andere als in Deutschland, da sich Japan nach wie vor weit mehr als Opfer sieht, und nicht als Täter im Zweiten Weltkrieg. Ich will nun dazu keine historische Betrachtung beginnen, das wäre zu ausladend. Wenn man sich Dokumentationen darüber ansieht, was in China und z.B. in Nanking geschehen ist, dann zerbröselt die "Unschuldsfassade" doch sehr schnell. Aber das ist ein anderes Thema. Eine Auseinandersetzung mit solchen Fragen suche ich bisher im Anime auch vergeblich. Man kann im Genre zwar viele Wege gehen, aber eben doch nicht alle.
Jedenfalls ist es bis zum heutigen Tag kein Problem, wenn Charaktere z.B. in Serien, die in historischer Zeit spielen, unverblümt davon sprechen, daß der Lebensraum für das japanische Volk auf dem Festland liegt (also China, Russland oder Korea), oder daß Ehre, Flagge und Volksgemeinschaft wichtiger sind, als das Leben einzelner. Man stelle sich nur vor, was mit einer deutschen Trickserie passieren würde, die solche blasigen Sprüche schwingt. Militärische Hardware wie Kampfroboter, Raketen, Raumschiffe, Schlachtkreuzer, U-Boote, mächtige und dicke Waffen aller Art etc. werden auch sehr gerne glorifiziert (und sexualisiert), besonders wenn es beim Feind dann richtig BUMM macht. Auf der anderen Seite gibt es dennoch auch stille und pazifistische Serien und Filme. Starke Kontraste überall.
Den stärksten Kontrast sehe ich auch gerade in der oft äußerst persönlichen Natur, die eine wirklich gute Serie haben kann ("Die Serie ist mir das wert, was sie für mich bedeutet"), und in der Massenbehandlung, die das ganze Genre im Internet erfährt. Die moderne Welt ist vielleicht in gewisser Weise durchaus der Nährboden für die Kreativität der Serien, und der Wind, der diese Kreativität verbreitet und neue Blüten hervorbringt. Auf der anderen Seite ist die Moderne aber auch wieder der Holzwurm im Gebälk, der zu Vereinfachung, Wachstumsproblemen und leicht pflegbaren Monokulturen führt. Ähm, kann jemand dieser obskuren Vegetations-Metapher folgen? ;-)
Ich habe den Eindruck gewonnen, daß einen die Kultur zum Thema Anime, die im modernen Internet betrieben wird, oft eher "runterzieht", anstatt die Freude an den Serien und Themen zu beleben. Anstatt Gedanken und Emotionen zu Serien findet man dort häufig nur Einsortierungen in feste Schemen, die üblichen Web-Manieren (z.B. in der Art von Kommentaren wie "I laughed my ass off when the old f**k died..." als Kommentar zu einer Sterbeszene) und Zweizeiler-"Reviews". All das je nach Ort und Serie sicher auch in unterschiedlichen Qualitäten , aber ich habe im Internet bisher keine Anime-Anlaufstelle gefunden, die mich sonderlich anspricht. Viele Leute, viele Daten, viele Listen und Votesheets, viele bunte Bilder in Hochglanz, aber nur wenig Substanz.
Wir haben auf der einen Seite Serien, über deren Aussage und Wirkung und offenen Fragen man eigentlich oftmals "in sich selbst" reflektieren könnte oder sollte oder prinzipiell müsste. Digital teilbar und begründbar und sortierbar ist das oft nicht. Auf der anderen Seite haben wir die Onlinekultur, die die Serien als Daten wie im Jahr 2013 üblich in Kategorien, Reputationen, Votes, Likes und Rankinglisten einzustufen und zu sortieren sucht, wie man es halt mit jeder Art von Daten macht. Meh.
Was mich persönlich zu einem gewissen Problem führt: einerseits habe ich weder das Interesse, noch die technischen Möglichkeiten zum Antesten und Speichern von Massendaten, andererseits möchte ich meine Auswahl an etwa 3 - 4 Animeserien pro Jahr selbst treffen und mir meine Meinung nicht vom Internet und Wertungen anderer Leute vorfiltern lassen. Wie also die wenigen wirklich herausragenden Serien in der Masse finden? Bisher bin ich mit der Taktik, ein wenig nach Gefühl und ein wenig nach kurzen Inhaltsangaben und auch sympathischen Titeln vorzugehen, meistens ganz gut gefahren. Es ist bei der Vielfalt der Genres und Inhalte, die man unter dem großen Dach "Anime" inzwischen vereint findet, vermutlich schwierig, einen gültigen Leitfaden für Qualität zu formulieren.
Die Aussage "Hat man einen gesehen, hat man alle gesehen..." trifft jedenfalls nur bei oberflächlicher Betrachtung zu. Die Aussage "Nimm halt Serien, die bei diesem und jenem Ranking auf Fansite xyz ganz oben stehen..." genieße ich auch mit Vorsicht. Was also tun? Ich würde sagen, mein persönlicher Leitfaden lautet so, daß sich eine gute Serie in jedem Fall dadurch definiert, daß sie ihren Fokus zuerst auf das Individuum lenkt, und über das Individuum dann ausformuliert, was Natur der Realität, Humanismus und das Gute im Menschen letztlich sind und bedeuten. Und ob man es glaubt, oder nicht, man kann diese Perlen finden. Ein paar Tipps habe ich schon gegeben, AnoHana und Natsume Yuujinchou (alle 4 Staffeln) stehen ganz oben auf der Liste, auch weitere 2 oder 3 Serien fallen mir noch ein.
Chris